Ein guter Moment, sich mit einer iPad App zu beschäftigen, von der ich im Laufe dieses Tages immer wieder auf Twitter gelesen hatte. Ich spreche von "The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore" - der interaktiven Kinderbuch-Umsetzung eines preisgekrönten 3D Kurzfilms. Es erzählt die schöne Geschichte von Morris, dessen Leben von fliegenden Büchern begleitet wird. Eine traumhafte Metapher, wie Bücher und Geschichten unser Leben bereichern.
Die App ist wie ein Buch aufgebaut. Es gibt Seiten zum blättern, Text zu lesen und Bilder zum betrachten. Doch ganz multimedia wird der Text von einer tollen Stimme vorgelesen und auf jedem der Bilder gibt es etwas mit den Fingern zu entdecken.
The Fantastic Flying Books of Mr. Morris Lessmore iPad App Trailer from Moonbot Studios on Vimeo.
Und plötzlich "las" ich das Kinderbuch nicht mehr alleine, sondern mit meiner Freundin gemeinsam. Das Ipad auf dem Schoß waren wir beide voller kindlicher Begeisterung in die Story eingetaucht und schauten was es in jedem Bild zu entdecken gab.Am Tag danach habe ich mich gefragt: Woher kam die Magie? Was hat diese App so besonders gemacht? Wie ist dieses Erlebnis entstanden? Und was kann das bedeuten?
An meinen unsortierten Gedanken will ich euch teilhaben lassen:
Ganz nüchtern betrachtet liefert die App nichts anderes als eine Slide-Show mit Suchbildern, auf denen ich als User eine Aktion auslösen kann. Damit unterscheidet sich Morris im Kern wenig von MYST - dem Computerrätselklassiker aus den frühen 90ern. Außer, dass die Rätsel bei MYST irre schwer waren. Auch MYST und der Nachfolger Riven sind mittlerweile für das iPad erhältlich.
Doch hier soll es nicht um Nerds gehen, de Retro-Games lieben, sondern um den neuen Kontext, den das iPad interaktivem Storytelling von Morris und Myst verleiht. Die Story ist der Einstieg in die digitale Welt. Sie verleiht dem Handeln des Users Bedeutung. Das war am Rechner so und ist auch am iPad so.
Was sich unterscheidet ist der Nutzungs-Kontext - meines Erachtens der zentrale Treiber des Erlebnisses. Meine Mutter hätte sich nie vor einen Desktop rechner gesetzt um sich mit Morris oder Myst auseinander zu setzen. Auf dem Sofa, mit einem iPad kann ich es mir vorstellen. Es scheint intimer, entspannter und suggeriert weniger Komplexität als ein PC oder Notebook. In meinem Empfinden ist der Computer ist für viele Menschen unterbewusst immer noch eher ein Arbeitsgerät. Selbst wenn viele Rechner (gerade Netbooks) anders genutzt werden, nährt sich das instiktive Naserümpfen vor Menschen, die viel Freizeit vor diesem Bildschirm verbringen, immer noch aus deren "Missbrauch" einer Produktivitätsmaschine. Mit dem Couchkontext ändert sich dass völlig.
Das "Sofa-Game" stellt damit auch die oft getroffene Unterscheidung zwischen Lean-forward und Lean-backward-Device in Frage. Für mich war das nie eine Frage des Geräts sondern eine des Mindsets des Nutzers. Und Morris auf dem iPad war für mich eine Erfahrung die ständig zwischen beiden Wahrnehmungsmodi hin uns her schwankte.
Seitdem laufe ich mit dem Gedanken herum, dass auf dem iPad "ältere" Formatkonzepte für digitales Storytelling einem neuen Kontext zugänglich werden und so auf das Interesse einer neuen Zielgruppe treffen können. Im Ansatz manifestiert sich dieser Gedanke bereits darin, dass im App-Store immer mehr Retro-Games (darunter auch Myst) auftauchen. Sie wärmen nicht nur das Herz alter Gamer. Auf dem iPad kann ich diese Games, den Menschen zeigen, die früher den Kopf geschüttelt hätten - und sie begeistern sich plötzlich dafür.
Im Kontext des Wohnzimmers werden neben neuen auch sehr alte Spielkonzepte für bisherige Non-Gamer zugänglicher - sie werden 'more casual'. Vielleicht weil sie nicht mehr mit den kuturell bedenklichen Räumen des Kinderzimmers oder der Spielhalle verbunden sind. Also mit Kontexten, die Eltern und die gesellschaftliche Obrigkeit stets als Orte der "Unkontrolle" der "Unordnung" betrachtet haben. Computerspielen im Kinderzimmer und besonders in den Spielhallen der Achtziger wurde stets mit Sorge beobachtet.
So schrieb der Kulturforscher John Fiske schon 1989 in "Lesarten des Populären" (Seite 88):
"Die Missbilligung der Spielhallen ist ein Symptom der Erkenntnis, dass diese sich außerhalb des Zugriffs der sozialen Kontrolle befinden"Doch genau darin lag damals der Spaß für die Jugendlichen, wie Fiske weiter ausholt, der in den Spielhallen einen Ort des Widerstandes gegen die Eltern sah.
Und während sich Pädagogen in den Achtzigern Gedanken machten über das Suchtpotential von Pac Man - kann man es heute ganz lässig auf dem Sofa oder unterwegs auf dem iPhone spielen. Und selbst diejenigen, die früher die Risiken solcher Spiele fürchteten, können sie nun im sicheren Wohnzimmerkontext erleben. Junge Eltern fürchten sich daher viel eher vor World of Warcraft - eine Bildschirmwelt, die sich dem sicheren, gewohnten Rezeptionskontext verschließt.
Meine steile These:
Mit dem iPad kann interaktive Storytelling schneller im Mainstream ankommen, als die Gaming Industrie glaubt - die das Adventure Game als Idee weitestgehend abgeschrieben hat.
Doch neuer Kontext neuer Markt...
Doch neuer Kontext neuer Markt...
Doch der Kulturanalyse mal beiseite. Es freut es mich einfach, weil sich mit dem neuen Kontext vielleicht eine Chance auftut, für ein verloren geglaubtes Game-Genre: Das Adventure könnte auf iPad und Co zu neuem Leben erwachen.
Auf dem PC und der Konsole mit all der Grafikpower und der Distanz zwischen Schirm und Nutzer hat es den Kampf gegen den Shooter eigentlich verloren. Ein Adventure braucht die Nähe eines Buches, das denke ich nach Morris Lessmore, damit ein großes Publikum bereit ist in eine interaktive Story einzutauchen. Und Adventure wären auch eine echte Alternative zu den ewigen Shootern, die auf dem iPad grausam zu spielen sind (meine Meinung).
Denn von Morris Lessmore (dem Einstieg ins non lineare Geschichten) sind die Schritte zu Myst oder zu einem "vollwärtigen" Adventure wie Monkey Island nicht weit. Monkey Island ist auch ein großer App-Erfolg (sowohl in der klassischen Version als auch in der Neuauflage) Vielleicht steht dem Adventure-Games ein Potential für ungeahnte Markterfolg offen - weil sich das Prinzip im neuen Kontext einem neuen Publikum erschließt. Ich fände das großartig, denn es eröffnet ein riesiges Potential für interaktives Storytelling. Jetzt müssen nur noch neue Adventure neben den Retro Games entstehen.
Ich komme zum Ende :-)
Die Story eröffnet ein Erlebnis, aber der Kontext ist King. So könnte man mein Erlebnis zusammenfassen. Das deckt sich mit den Beobachtungen von Digitalstrategen Russel Davis, der rät sich bei jedem Design heute stets den Kontext eines Medienerlebnisses genauer anzusehen.
Vielleicht aber wir erleben schlicht ein wiederkehrendes Muster in der Computergeschichte: Mit jeder großen Medien-Innovation werden bekannte Content-Formate neu erfunden und als Revolution gefeiert. Was ich damit meine erklärt John Maeda in den ersten Minuten dieses Vortrags (ab Minute 1.41) besser als ich schreiben kann:
Wie dem auch sei - ich hatte mit Morris einen tollen Abend!
Jetzt habe ich Tales of Monkey Island geladen. Der Urlaub kommt ja bald.
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