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Freitag, 16. April 2010

Transparenz, Penise, Glaubenskriege, Makerbots und andere Innovationen - Mein Re:publica Tagebuch

Tag 1 - Mittwoch

Die Bloggerkonferenz re:publica ist wie das Internet ein besonderer Raum mit eigenen Regeln. Zum Beispiel schreiben viele Teilnehmer ihren Twitternamen unter unter das Namensschild, das jeder Konferenzbesucher trägt. Ich habe mich dem sofort angeschlossen, nachdem ich diese Situation in der Warteschlange am Eingang erlebt habe.


Eine stämmige Frau mittleren Alters ist auf einen Mann zugestürmt, der in der Schlange stehend sein Notebook auf dem Arm balancierte.
"Hallo GilliBerlin", begrüßte sie ihn und erntete einen überraschten, schüchtern erschreckten Blick. Für eine Sekunde drohte das Notebook zu Boden zu stürzen.
"Ich bins doch - Biggi76 von Twitter. Wir schreiben uns DMs.", führte die Frau ihre Begrüßung fort. Und schon konnte sich ihr Gegenüber an sie erinnern.
"Ach ja, hallo wie gehts?", sagte der Notebook-Balancierer.
"Gut, aber ist eine ziemlich lange Schlange", sagte die Frau.
"Finde ich auch. Deshalb Twittere ich grade noch."
"Super. Freue mich voll deine Tweets zu lesen. Bis nachher".

Damit endete der hybrid-mediale Small Talk. Die Usernamen habe ich verfremdet. Wahrscheinlich gibt es für einen aktiven Twitterer keinen Ort mehr, an dem er nicht potentiell erkannt werden kann. So wie man im Urlaub stets auf einen Bekannten trifft, trifft man nun Follower - die einen in der Schlange überrumpeln. Zugegeben ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Twitterer auf der re:publica treffen ungleich höher als im Urlaub, denn deshalb gibt es die Veranstaltung.

Nichtsdestotrotz: Die Welt ist transparenter geworden mit dem Internet. Und diese Transparenz war auch das große Thema meines ersten Konferenztages.

Evgeny Morozov hat einen kritischen Blick auf diese Transparenz. Er erläuterte in seinem Vortrag, dass nicht nur Revolutionäre von der neuen Offenheit digitaler Kommunikationsmittel profitieren.

Technologien wie Twitter geben Systemgegnern,wie im Iran, zwar ein mächtiges Mittel in die Hand, um Widerstand zu organisieren. Doch man sollte sich nicht von der Freiheitsphantasie blenden lassen, dass ein offenes Internet automatisch zu einer freiheitlichen Gesellschaft führe.
Denn die Offenheit der Kommunikationsnetze mache es autoritären Staaten mit Spionen auf Twitter und Facebook auch leichter Systemgegener zu überwachen, zu identifizieren und die Diskussionen zu manipulieren.

Widerstand ist also durch die neuen Medien nicht weniger gefährlich geworden. Und die aufgezeigten Praktiken der Meinungskontrolle autoritärer Staaten im Social Web hat bei mir auch den sauren Nachgeschmack hinterlassen. Denn schnell können auch Demokratien den Verlockungen des "Social Media Monitorings" aus Sicherheitsaspekten erliegen und ich kann jedem Morozovs spannenden TED-Vortrag zum Thema "Wie das Netz Diktatoren hilft" empfehlen:



Aller notwendigen Kritik zum Trotz: Das Internet kann dazu beitragen, die Arbeit von Regierungen transparenter zu machen. So können Bürger - zumindest in einigermaßen funktionierenden Demokratien - ihre Abgeordneten besser kontrollieren. Das hat David Sasaki in seinem Vortrag gezeigt und verschiedene internationale Webinitativen zur Kontrolle von Regierungen vorgestellt. Man kann sie unter Transparency.globalvoices.com absurfen und bekommt einen guten Eindruck davon, was digitale Demokratie sein kann.

Die Transparenz, die das Internet schafft, ist also weder gut noch schlecht. Sie ist eine Frage der Bewertung.

Das findet auch Journalismus-Professor und Internet-Prediger Jeff Jarvis. In einer unterhaltsamen manchmal klerikalen Keynote hat er uns Deutsche aufgefordert, das Internet nicht nur in Sorge um die "Privatsphäre" zu betrachten, sondern den Wert der Öffentlichkeit wahrzunehmen.

Für ihn als Amerikaner erscheint die deutsche Debatte um den Schutz der Privatssphäre paradox, da sie in einem Land statt findet, in dem es für niemanden ein Problem ist, seine Geschlechtsteile in der öffentlichen Sauna zu zeigen.

Wovor habe man also Angst, fragte er. Natürlich müssten Menschen, die Kontrolle darüber behalten, welche Informationen sie über sich im Netz preisgeben. Doch die Angst, dass ein falsches Foto oder ein schlechter Blogbeitrag die Reputation eines Menschen oder Unternehmens auf ewig beschädigten, teilt er nicht. Das Netz werde uns allen zeigen, so Jarvis, dass niemand perfekt sei. Darüber hinaus sei es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass das Verständnis von Privatsphäre hochgradig kuturell geprägt sei. So habe man z.B. in Schweden keine Bedenken sein Gehalt zu veröffentlichen.

Im Umkehrschluss führt ein überzogenes Sicherheitsdenken sogar dazu, dass der Wert der Öffentlichkeit nicht erkannt wird.
Diesen Wert macht Jarvis mit einer sehr persönlcihen Geschichte deutlich. Nur weil er seinen Protatakrebs und die peinlichen Nebenwirkungen der Behandlung öffentlich gemacht hat, ist er in Kontakt mit Menschen gekommen, die sein Schicksal teilten und hat wertvolle Informationen und Kontakte geschlossen.
Denn das Internet ist für ihn kein Medium. Es ist eine Verbindungsmaschine zwischen Menschen - ein neuer, öffentlicher Kulturraum, an dem man nur teilhaben könne, wenn man etwas von sich preisgibt. Und je mehr Menschen und Regierungen versuchten diesen Raum durch Regeln der Privatsphäre einzuschränken, desto mehr würden sie die wertvollen, kulturschaffenden Verbindungen zwischen Menschen verhindern.

Er gehe das Netz mit großem Optimiusmus an: Für ihn ist der Nutzen der Öffentlichkeit stets höher als der Schutz der Privatsphäre. Denn unter lauter Nackten gibt es keine Geheimnisse mehr. Deshalb ludt er die Zuhörer im Anschluss an seinen Vortrag zu einem gemeinsamen Saunagang in seinem Hotel ein, um über seine Thesen zu diskutieren.

Weitere Zusammenfassung des Vortrags:

Video:

Jeff Jarvis über Privatsphäre im Internet-Zeitalter: Wenn der Penis schrumpft


Bestimmt teilte nicht jeder im Auditorium seinen Optimismus zur Öffentlichkeit. Auch ich hatte einige Male Schwierigkeiten ihm zu folgen. Denn Öffentlichkeit erzeugt - das wissen wir nicht erst seit Foucault - immer auch einen sozialen Anpassungs und Konformitätsdruck.

Das dieses Schwanken zwischen Freiheitseuphorie und Mistrauen normal zu sein scheint, hat Prof. Peter Kruse in seinem Vortrag deutlich gemacht.

In rasender Geschwindigkeit und in beeindruckend animierten Folien präsentierte er das Ergebnis einer Interview-Studie, die er mit Menschen gemacht hat, die das Internet intensiv nutzen.

Dabei hat er herausgefunden, dass sich diese Heavy User unabhängig vom Alter bei gleicher Nutzensintensität in zwei gleichberechtigte Gruppen teilen lassen: Die Digital Visitors nutzen das Netz für ihre Arbeit aber stehen dem Internet und seinem Einfluss auf menschliche Beziehungen eher mistrauisch gegenüber. Ihnen gegenüber stehen die Digital Residents, die das Internet als wichtige Berreicherung ihres beruflichen und privaten Lebens sehen und es gerne in ihren Alltag integrieren.

Da sich diese Positionen nicht durch Fakten über das Internet begründen lassen, entsteht ein Glaubens- oder Wertekonflikt, der die Debatten über das Netz stets polarisiert und den Blick auf die kulturellen Veränderungen durch das Netz verstellt.

Seine Folien:
Für mich war Kruses Vortrag aus drei Gründen das anregenste Erlebnis der re:publica.
  1. Mich haben seine überanimierten Folien misstrauisch gemacht und ich habe mir die Frage gestellt, wie er geprüft hat, ob er mit seinen Interviewfragen nicht das Ergebnis der Studie vordefiniert hat.
  2. Ich habe mir die Frage gestellt, wie diese Glaubenssysteme dem Internet gegenüber entstehen und fortgeschrieben werden. Ob schon mal jemand eine Diskursanalyse unter dieser Prämisse angestrebt hat?
  3. Mir hat Peter Kruses Ausblick auf die Auswirkungen des Internets für die Gesellschaft gezeigt, dass auch er in seinem eigenen Glaubenssystem gefangen bleibt. Denn in meiner Interpretation schwingt in jeder seiner Formulierung die Sichtweise eines Digital Residents mit.
Vor allem sein Hinweis auf die über das Netz organiserten Studentenproteste im letzten Jahr, ist ein deutliches Statement, das auch er an die Kraft der neuen digitalen Öffentlichkeit glaubt.

Die Grenzbereiche dieser digitaler Publizität kennt die Feministin und Bloggerin Melissa Gira Grant. In ihrem Vortrag berichtete sie über die versteckten Orte und Praktiken, mit denen Menschen sich jenseits der unzähligen Porno-Portale mit ihrer Sexualität beschäftigen. Die neue Öffentlichkeit des Netzes helfe Phantasien zu erforschen und Gleichgesinnte zu finden.

Unübersehbar wurde die digitale Öffentlichkeit als sie live auf der Bühne die Chatplattform Chat-Roulette ausprobierte, die zufällig zwei beliebige Webcams verknüpft.

Plötzlich sah sich das Auditorium der Nahaufnahme eines maturbierendes männliches Genitals ausgesetzt. Grant reagierte gelassen und fragte den anonymen Exhibitionisten, ob auch ihre Freunde der Streichelei zusehen dürften. Der unbekannte Mann, dessen Gesicht man nie sah, erteilte promt seine Erlaubnis. Grant drehte ihren Laptop zum applaudierenden Auditorium. Konfrontiert mit 500 Zuschauern versagte dem Mann sofort Erregung und er schaltete seine Webcam aus. Öffentlichkeit wirkt eben immer in beide Richtungen.




2. Tag - Donnerstag

Mein zweiter Tag drehte sich um das Thema Innovation. Nicht nur in den Vorträgen wurde diskutiert, wie neue Ideen entstehen und umgesetzt werden.
In einer spannenden Mittagspause habe ich mit Steffen Stäuber, Tim Keil und anderen Digital Strategen angeregt diskutiert, wie sich Agenturen künftig aufstellen müssen, um ohne Management-Overhead flexibler und jenseits von Standard-Lösungen agieren zu können.
Einig waren wir uns alle, das Agenturen auf eigenes Risiko mehr in Vorleistung gehen müssen. Bevor eine Agentur einem Kunden erklärt kann, wie das Web sein Geschäft verändert, sollte sie sich selber verändert und der neuen Welt angepasst haben. Das bedeutet für mich die Förderung von Forschung und Entwicklung und die gleichberechtigte Zusammenführung von Designern, Grafikern und Technikern.

Ein Gedanke, den auch Tim Leberecht von Frog Design in seiner Session aufgriff. Innovationen werden, seiner Meinung nach, von der Angst getrieben, morgen sein Geschäftsmodell zu verlieren. Und in einer immer komplexer werdenden Welt, kann man dieser Angst nur mit einem interdisziplinären Team entgegen treten. Diese Team muss gewillt sein mit seiner Arbeit Bedeutung zu schaffen.

Das sei die genuine Kernkompetenz von Designern, die aus der Nähe zum Menschen heraus neue Lösungen schaffen, die Bedeutung entfalten, weil sie bequem, sozial, unterhaltsam oder transzendent sind.

Wie wichtig ganzheitliche Innovationen für Unternehmen künftig werden, zeigte Bre Pettis .
Er stellte seinen Makerbot vor - einen 3D Drucker für unter 1000€.

Mit ihm lassen sich 3D-Model aus dem Internet herunter laden und als Plastik-Objekt ausdrucken. Noch hat die Maschine enge Grenzen und kann nur kleine Objekte ausdrucken, wie eine Trillerpfeife oder ein Ehering.



Doch in Anbetracht der Geschwindigkeit von technologischen Entwicklungen, sollten alle produzierenden Unternehmen im Auge behalten, wie sich ihr Geschäftsmodell ändert - wenn die Digitalisierung Geschirr, Turnschuhe sogar Autos erfasst.

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