Um die Diskussion anzuregen habe ich 10 Thesen zu Youtube vorgestellt. Meiner Meinung nach sollten Filmschaffende (aber auch Marketing-Entscheider) diese Punkte im Auge behalten, wenn sie Inhalte über Videoportale, wie Youtube, publizieren wollen.
1. Youtube ist keine Fernsehsender sondern die größte Videothek der Welt!
Das bedeutet: Man kann nicht automatisch mit einem Publikum rechnen.
Vielmehr sollte man sich Youtube als eine Lagerhalle vorstellen in der 120.000.000 Videos in den Regalen liegen. Wer die Lagerhalle betritt, um sich einfach mal einen Film anzusehen, ist von der schieren Masse überwältigt. Mich persönlich überfordert schon das Angebot meiner lokalen Videothek um die Ecke. Doch selbst die hat einige Ähnlichkeiten mit Youtube.
Wenn ich meine Stammvideothek betrete bekomme ich am Eingang diverse Filme angeboten, die besonders platziert sind, weil sie entweder neu oder besonders beliebt sind. Und ein guter Videothekar (ich habe leider noch keinen erlebt) kann einem Kunden sicherlich, Filme empfehlen, weil er weiß, was der Kunde früher geliehen hat.
Die Youtube-Startseite ist wie der Empfangsbereich meiner Videothek aufgebaut: Man bekommt die beliebtesten Videos angeboten. Die neuesten Filme sind prominent platziert, man erfährt welche Videos gerade gesehen werden und bekommt Empfehlungen von der Youtube Datenbank basierend auf den bisher geliehenen Videos.
Wie in einer Videothek kann man Videos nach Rubriken suchen und die Filme sogar "ausleihen" oder empfehlen - indem man sie in seinen Blog integriert, auf Facebook postet oder den Link verschickt.
2. Fast niemand "surft" mehr auf Youtube.
Die besten Filme findet man, wie in der echten Videothek, dann wenn man genau weiß wonach man sucht oder wenn man den Film empfohlen bekommen hat.
Sehr viele Youtube-Nutzer wissen was sie suchen oder sehen wollen, bevor sie die Seite besuchen. Die geben den Titel im Suchfenster ein und sehen sich dann den Film an.
Eine bei Techcrunch im Januar 2010 veröffentlichte Untersuchung geht davon aus, dass 45% Prozent aller Videos direkt angesteuert werden. Die restlichen 55% Prozent würden hauptsächlich auf Blogs oder in Social Networks entdeckt.
3. Lebenszeit eines Videos ist sehr kurz.
50% der Views entstehen in den ersten 14 Tagen danach gehen die Klickraten rapide bergab, so Techcrunch.
4. Youtube - Phänomene sind zufälliger Natur.
Jeder Kreative stellt seinen Film bei Youtube ein, in der Hoffnung die Welt von seinem Inhalt zu begeistern. Und Youtube ermöglicht erstmals diese Chance.
Aber es ist eine Chance - und keine Zwangsläufigkeit.
Es kann passieren, dass ein Video plötzlich Millionen erreicht - es muss aber nicht. Die Verbreitung von Videos ist in den meisten Fällen nicht allein von ihrem Inhalt abhängig. Sie ist von vielen Variablen abhängen: u.a. vom Absender, dem Zeitpunkt des Einstellens, dem Zeitgeist oder schlicht dem Zufall, dass jemand mit sehr vielen digitalen Kontakten über den Clip stolpert und ihn multipliziert.
Ich glaube, die meisten bekannten Youtube-Phänomene beruhen eher auf einer Verkettung von Zufällen oder wie im Falle von Werbevirals auf einer geschickten Seeding-Strategie als auf der Qualität des Inhalts.
Ein gutes Beispiel für ein zufälliges Youtube-Phänomen ist die Geschichte des Teenagers, der unter dem Psyeudonym Lukewes1234 im vergangenen Jahr die Bitte um 50 Abonnenten ins Netz stellte.
Aus ungeklärten Gründen landete der Link zu diesem Video bei 4chan - einem Webforum, dass Spiegel Online so beschreibt:
Das Bulletin Board ist eine Mem-Schleuder, eine Brutstätte für ansteckende Ideen, aber auch ein abgründiger Ort, an dem Scheußlichkeiten, rassistische und sexistische Tiraden und Bilder weit jenseits der Grenzen des guten Geschmacks veröffentlicht werden. Eine Zensur findet kaum statt - nur Kinderpornografie ist offiziell nicht erlaubt. Wenn doch etwas Gesetzwidriges auftaucht, bleibt es nicht lang - Threads bei 4Chan überleben üblicherweise nicht länger als eine Stunde, manche verschwinden nach Minuten wieder." (Spiegel Online)
Plötzlich hatte Lukewes1234 über 15.ooo Abonennten, die ihm nicht nur wohlgesonnen waren. Als Youtube darauf hin seinen Account löschte, drohte die Community von 4chan Youtube am "Porn Day" mit massenhaft hochgeladenen Pornos zu überhäufen. Die ganze Geschichte kann man sehr gut bei Knowyourmeme.com nachlesen.
5. "Nur" etwa 4-5% aller Videos auf Youtube erreichen 10.000 Views und mehr.
Über die Hälfte liegen zwischen 50-500 Views.
6. Es ist logisch, dass viele Videos nur kleinen Zuschauerzahlen haben: Sie sind als private Freundschaftsbeweise für den kleinen Kreis produziert worden.
Menschen haben ein völlig anderes Motiv ihre Videos auf Youtube zu laden als professionelle Unterhalter oder Werbetreibenden, die entweder um Applaus oder Aufmerksamkeit und Verkäufe ringen.
Nutzer möchten mit ihren Videos meist Freundschaftsbeweise inszenieren. Sie produzieren ihre Clips, um ihren Freunden "Hallo" zu sagen und sie innerhalb ihres Freundeskreises zu verteilen. Der Inhalt des Videos ist zweitranging, wichtig ist der beziehungsstiftende Akt, der an fatische Kommunikation erinnert.
Auch die Entscheidung, ob man ein Video seinen Freunden empfiehlt, ist eher von dem individuellen sozialen Wert des Videos abhängig als vom Inhalt.
Das heißt im Klartext: Ein Video wird nicht alleine deshalb empfohlen, weil der Inhalt so gut ist - sondern, weil der Sender mit seiner Empfehlung etwas über sich aussagen kann:
Er zeigt seinen Freunden, dass er ein Conaisseur oder ein Kritiker ist und einen guten und für seine Freunde wichtigen Geschmack hat. Deshalb scheint man genauso häufig persönlich "gut" wie "schlecht" empfundene Videos zu empfehlen, um zu zeigen, dass man noch zu seinem Freundeskreis passt.
Als ein gutes Beispiel für die verschiedenen individuellen Bedeutungen bei Videos nennt der Kulturwissenschaftler Henry Jenkins diesen Polo-Spot:
Er wurde von Humoristen ebenso diskutiert und weitergesendet wie von Islamisten. Beide hatte jeweils eine andere Motivation, sich mit dem Inhalt zu beschäftigen: Die einen teilten ihren Humor, die anderen ihre Empörung.
Deshalb führt auch der Begriff "Viral" in die Irre. Er suggeriert, das es Inhalte gibt, die Menschen infizieren und zum Weiterempfehlen quasi zwingen. Jenkins hingegen macht deutlich, dass man das Verschicken nicht erzwingen kann. Wohl aber kann man einen Inhalt so gestalten, dass es zum verschicken einlädt - ihn in den Worten von Henry Jenkins kann man Inhalte "Spreadable" machen.
Anders als im TV und besonders bei klassischer Werbung kommt es dabei auf Vieldeutigkeit an und darin liegt auch das Geheimnis und die Chance von Youtube:
Je mehr Menschen aus ihrem eigenen Lebenshorizont Interpretationsansätze in einem Video finden, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie es auch ihren Freunden empfehlen. Man sollte also Filme auf Youtube als "Kulturelle Objekte" verstehen und als Rohmaterial begreifen, an denen Zuschauer ihre eigene Bedeutungen erzeugen, diskutieren und teilen können.
Ästhetisch kann Vieldeutigkeit gefördert durch Humor, Selbstironie, Parodie, Vulgäres, Unfertige Ästhetik, Fan-Insider Wissen und Zitate.
Mehr zu dem Thema "Viral vs. Spreadability" gibt es in diesem mehrteiligen Essay von Henry Jenkins.
6. Verbreitungseffekte beginnen über den Daumen gepeilt bei 1000 regelmäßigen Zuschauern.
Diese Zahl kann ich nicht validieren. Sie ist durch die Erfahrung mit eigenen Projekten und Gespräche mit Webvermarktern als mein Bauchgefühl entstanden. Tausend aktive Zuschauer sind schon eine ganze Menge. Und sie sind wahrscheinlich einfacher zu gewinnen, wenn man eine Meinung zu einem Thema bezieht und sich so an einen bestehenden "Fan-Kreis" richtet. So wie sich ein junger Unternehmer auf einer Party stets die richtigen Leute sucht, um ein Projekt zu pitchen.
7. Man sollte keine Wahnsinns-Quoten wie im TV erwarten.
Denn die Quote im TV ist eine statistische Hochrechnung der potentiellen Reichweite ist. Im Internet hingegen ist die Zuschauerschaft echt. Und anders als im TV lässt sich auch mit einer kleinen aber feinen Zuschauerschaft viel erreichen: Das Filmprojekt IronSky versucht zum Beispiel die Finanzierung eines Science Fiction Films über Anteile zu sichern, die Fans im Vorfeld kaufen. Vielleicht ist es für Youtube zu Beginn eines Filmprojektes angebrachter in den Zuschauer-Kategorien eines Off-Theaters in Berlin zu denken, als in Konkurrenz zu TV-Kanälen.
8. Youtube ermöglicht eine neue Freiheit für Kreative
Die "Anonymität" auf Youtube und das einfache kostenfreie publizieren, ergibt einen spannenden Freiraum, um Stories, Charaktere und Ideen in freier Wildbahn zu erforschen und mit anderen zu teilen. So lässt sich unter Umständen sukzessive ein Fanstamm aufzubauen. Und wenn man zum Mittelpunkt eines zufälligen Youtube Phänomens wird - um so besser.
9. Will man zusätzlich Aufmerksamkeit für ein Projekt generieren, muss man sich eine Vermarktungsstrategie überlegen.
Soll ein Youtube Filmprojekt über die "Experimentalphase" hinaus gehen und einer größeren Öffentlichkeit Publik gemacht werden, muss man sich wie bei jeder Premiere Gedanken darüber machen, wie man die sein Publikum einlädt.
Ein paar Anregungen:
- Gibt es bereits Fans aus früheren Projekten, die man ansprechen kann?
- Welche Freunde und Bekannte lassen sich für das Projekt einspannen?
- Gibt es Filmblogger, die an dem Projekt Interesse haben könnten?
- Lässt sich der Inhalt des filmischen Werks mit anderen Medien weitererzählen, z.B. in Blogs, Comics, Büchern etc...
10. Die alte Frage jedes Unterhaltungsformats - "Was will das Publikum?" bleibt auch im Netz ungelöst.
Aber ohne das Risiko eines Versuchs wird man es nicht herausfinden können. Und hier bietet das Web eine wirklich tolle Möglichkeit: Man kann das Publikum einfach fragen.
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